WUT - auf mich?
Ich bin wütend. Und zwar schon lange. Es brodelt in mir und kann nicht raus.
Als Kind wusste ich noch, wie sich Wut anfühlt und wie ich sie rauslassen kann. Allerdings hat mich die Wut als 3-Jährige so eingenommen, dass ich in diesen Anfällen kurz aufs Atmen vergessen hatte. Der Tipp des Arztes an meine Eltern: Wasser ins Gesicht. Sie haben es zwar nicht oft anwenden müssen, aber ich habe das Gefühl, das hat etwas mit mir gemacht. Und zwar: Wut ist schlecht, also fühle sie nicht und zeige sie nicht, sonst wird es unangenehm. Und dann wars erstmal vorbei mit der Wut. 28 Jahre lang. Ich kann mich nicht erinnern, in dieser Zeit je Wut empfunden, geschweige denn gezeigt zu haben. Ich glaube niemand in meinem Umfeld kennt mich wütend. Doch Wut gehört zu den Grundgefühlen, wohin ist sie also verschwunden?
Wut sucht sich ihren Weg
Heute weiß ich wohin. Sie konnte nicht raus, deshalb ist sie in meinem Körper geblieben und hat dort einiges angerichtet. Das Erste was sich gezeigt hat, war eine Autoimmunerkrankung. Hashimoto. Nichts Lebensbedrohliches. Mein eigener Körper greift meine Schilddrüse an und zerstört sie langsam. Nach was klingt das? Genau, Wut gegen mich selbst.
Vor 2,5 Jahren folgte dann die nächste Diagnose: schwere depressive Episode. Ich glaube, dass mich die Depression schon länger davor begleitet hatte, aber in einer leichteren Form. Bei einer schweren Depression klappt das Funktionieren halt überhaupt nicht mehr und dann ist es eindeutig. Ich habe ein Buch gelesen, in dem der Autor Depression beschreibt, als die Belohnung für das Brav sein. Das finde ich sehr passend.
Und da ja alle „guten“ Dinge drei sind: Seit letztem Jahr weiß ich jetzt auch von meinem gutartigen Hirntumor. Da er schon recht groß ist, aber nur ca. 1mm pro Jahr wächst, ist er wohl schon seit meiner Kindheit ein Teil von mir. Etwas das IN mir wächst. Für mich steht das auch für etwas, das raus möchte, aber keinen Ausgang findet. Vielleicht ein Gefühl, vielleicht die Wut.
Fazit: So kann es nicht weitergehen. Wer weiß, wie sich die Wut noch zeigt, wenn ich nicht endlich einen Kanal für sie finde. Ich denke, dass ich bisher Wut mit Traurigkeit verwechselt hatte. Denn in traurig sein bin ich echt gut. Ein Muster von mir war, dass ich bei Situationen, die unangenehm waren, mich erstmal zurückgezogen habe, um zu weinen. Anstatt etwas anzusprechen, darüber zu reden, zu schreien oder sonst irgendetwas. Es gäbe ja viele andere Wege. Aber nein, ich kannte nur das.
Ganz ehrlich? Ich bin noch Anfängerin beim Thema Wut. Es hat sich im letzten Jahr erstmal sichtbar gemacht. Immer wieder begegnet mir das Wort Wut, sei es in Büchern, bei Coachings, in den Ausbildungen, bei Konflikten mit anderen Menschen oder bei meinem Hund Theon.
Wieso mich mein Hund wütend macht
Theon hat es bisher noch am öftesten geschafft mich richtig wütend zu machen. Für MEINE Verhältnisse richtig wütend. Denn es sind immer noch sehr zarte Wutanfälle. Trotz all dem Ärger und Frust, bin ich ihm aber dankbar. Denn solange ich meine Wut unterdrücke, werde ich nicht Ich selbst sein. Erst wenn ich alle Gefühle zulassen und zeigen kann, ohne sie zu bewerten, bin ich frei. Es gibt keine schlechten oder guten Gefühle, jedes Gefühl hat seine Berechtigung. Sie sind Wegweiser. Hunde spüren es, wenn wir uns nicht authentisch verhalten. Theon fühlt meine Wut, aber ich zeige sie nicht. Das macht keinen Sinn für ihn. Denn er verstellt sich auch nicht. Wenn er Angst hat, zeigt er die Angst. Wenn er sich freut, zeigt er die Freude. Er denkt nicht darüber nach, was andere von ihm halten könnten. Und genau dort möchte ich auch hin. Aber erstmal beginne ich damit, die Wut zu erkennen. Das ist der erste Schritt. Die Wut ausleben folgt danach. Wie genau, das lasse ich auf mich zukommen.
06. Oktober 2022