17 Minuten. Die Fahrzeit, die mir Google Maps anzeigt, zu einem Ort, von dem ich gestern noch nicht wusste, dass er überhaupt existiert.
Ich komme dort an, parke 300 Meter entfernt und nähere mich dem Ort, ohne zu wissen, was mich erwarten wird. Mitten im Industriegebiet, wie ausgestorben an einem Sonntagvormittag, sehe ich eine riesige Wiese. Am Zaun lese ich ein Schild: “Füttern verboten”. Neugierige Augen starren mich von der Ferne an. Schafe und Ziegen liegen weiträumig verteilt. Wer nicht weiß, was das für ein Ort, denkt sich “Die haben’s ja nett hier”.
Als ich das Denkmal erblicke, klein und unscheinbar, geh ich darauf zu und lese: “Im Gedenken an die Opfer des Nebenlagers des KZ Mauthausen, das hier von 1943-1944 war.”
Ich schlucke und kann es immer noch nicht glauben, dass ich seit 36 Jahren nur 17 Minuten entfernt von einem ehemaligen KZ lebe und es nicht wusste. Mir drückt es die Tränen in die Augen, aus Traurigkeit und Wut. Traurigkeit für die Menschen, die hier gequält und getötet wurden. Wut auf mich, weil ich mich nie informiert hatte, was in meinem näheren Umfeld während des 2. Weltkrieges stattgefunden hat. Wut auf meine Schule, weil ich mit meiner Klasse in der Oberstufe nur wenige Meter entfernt eine Firma besuchte, wo sie uns als zukünftige Mitarbeiter:innen anwerben wollten. Ohne ein Wort davon, dass das ganze Gebiet mit unzähligen Betriebsgebäuden auf einem Platz gebaut wurde, wo vor 80 Jahren bis zu 3.170 Menschen misshandelt, ausgebeutet, gequält und getötet wurden.
Ich gehe den Zaun entlang und sehe Mauerreste. Reste vom Lager, die es in meinem Kopf erst richtig real werden lassen. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten und beginne zu schluchzen. So ein großer Schmerz, den ich spüre und der nicht mal im Ansatz das spüren lässt, was die Menschen hier ertragen mussten.
10 Minuten stehe ich vor den Überresten des ehemaligen KZ, die Tränen fließen endlos im Gedanken an die Opfer. An einer leeren Straße stehe ich, menschenleere Industriegebäude um mich herum und ein Schaf, das sich mir nähert mit der Hoffnung, ich hätte etwas Essbares dabei.
Wieder und wieder frage ich mich, warum ich davon nichts wusste. Ja, im Schulfach Geschichte wurde vom 2. Weltkrieg gelehrt, wir besuchten auch das KZ Mauthausen. An die Besichtigung kann ich mich jetzt noch erinnern, die Bilder von den Gaskammern sehe ich noch vor mir. Es war so wichtig, dass wir dort waren. Es hat mich bewegt und etwas in mir verändert. Aber es war immer eine gewisse Distanz dabei. Weit weg von mir und meiner Realität. Das ist alles weit entfernt passiert, in einer Zeit lange vor mir. Es hatte nichts mit mir zu tun. Dachte ich.
Doch jetzt stehe ich hier an diesem Platz und fühle mich schuldig. Innerlich höre ich mich immer wieder sagen: Es tut mir Leid.
Krieg hat immer Auswirkungen. Nicht nur auf die Menschen, die dabei waren und es miterlebt haben, sondern auch auf die Generation danach. Und die darauffolgenden. Solange in einer Familie dieser Schmerz nicht aufgearbeitet wird, bleibt er. Sowohl bei den Opfern, als auch bei den Tätern.
Als ich 2018 damit begann, mich mit meiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen, war mir klar, dass es nicht angenehm werden würde. Ich schickte Anfragen an Archive um herauszufinden, welche Rolle mein Großvater im Krieg spielte. Als er noch lebte, wurde darüber nicht gesprochen. Die einzige Info, die ich hatte, war: Er war Soldat an der Front. Jahre nach seinem Tod bekam ich ein paar Zettel in die Hand, auf der meine auch bereits verstorbene Großmutter das Leben meines Opas zusammenfasste. Ich erfuhr von Fakten, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen, sobald man sie einmal gelesen hat.
Ich glaube, dass der Hass, der im Moment auf der ganzen Welt so stark spürbar ist, daher kommt, dass sich die meisten Menschen nicht mit ihren eigenen Schattenseiten auseinandersetzen. Das Böse wird immer bei den anderen gesehen. Man selbst hat damit nichts zu tun. Und das ist das Gefährliche. Denn was ich mittlerweile erfahren durfte ist, dass es kein Schwarz oder Weiß gibt. In uns allen steckt eine dunkle Seite, von der man nichts wissen will. Die man verleugnet und überspielt.
Erst wenn man sich über seine Schatten Gedanken macht, sie beobachtet und ins Bewusstsein holt, kann man sie verändern. Dann kann man beginnen, sich selbst zu verzeihen und andere um Verzeihung zu bitten. Wir sind keine Engel. Wir sind Menschen und machen Fehler. Und je länger diese verleugnet werden, desto größer ist die Gefahr, dass sie wachsen. Wie ein Pilz, der immer größer wird.
“Irgendwann muss man die Vergangenheit ruhen lassen” – dieser Satz fällt häufig, wenn es in Österreich um die Nachwirkungen und die Schuldfrage des 2. Weltkrieges geht. Ich bin eine Person, die gerne Lösungen findet und nach vorne schaut. Aber dieses Thema darf für mich nicht in Vergessenheit geraten. Denn der Hass, der in der aktuellen Zeit wieder an der Tagesordnung steht, zeigt, dass unsere Gesellschaft nicht aus den Gräueltaten des Krieges gelernt hat. Wir sind dabei, es zu wiederholen. Um es zu verhindern, ist jede:r einzelne in der Verantwortung auf sich, seine Vergangenheit und seine Familiengeschichte hinzuschauen und aufzuarbeiten. Ich glaub nur dann haben wir noch eine Chance die Geschichte, zumindest in diesem Land, nicht zu wiederholen.
Ich habe mich entschieden, dem Gedenkverein des Mauthausen Komitees beizutreten. Vielleicht um einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass wir nie vergessen, was passiert ist. Vielleicht auch, um mich weniger schuldig zu fühlen. Auch wenn ich erst 44 Jahre nach Kriegsende geboren wurde, ist da ein Schuldgefühl. Kann sein, dass dieses nie ganz verschwinden wird.
- September 2025
